Musik des Mittelalters und der Renaissance

 

Seitdem in den historischen Wissenschaften ein systematisches Quellenstudium betrieben wird, ist man es gewöhnt, die Vergangenheit mit fassbaren Begriffen in Epochen einzuteilen und so zu strukturieren. Bei dieser Gliederung ist man von Gemeinsamkeiten innerhalb eines Zeitabschnittes in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung ausgegangen. Im kulturellen Bereich bedeutet das: gemeinsame stilistische Merkmale in künstlerischen Äußerungen wie Malerei, Musik und Architektur.
Die Zeit von etwa 500 bis um 1500 bezeichnet man heute grob umrissen als das "Mittelalter". Wenn man alleine die Entwicklung der Architektur innerhalb dieses Zeitraumes betrachtet, so begegnet man einer Folge von Stilen. Die Karolingische, Ottonische, Romanische und Gotische Bauperiode reihen sich innerhalb dieses Zeitraumes aneinander - sie sind steingewordenes Zeugnis von der Uneinheitlichkeit und Stilvielfalt dieser Epoche – was bei einer Spanne von tausend Jahren ja auch nicht weiter verwundert. Nur haben sich diese einzelnen Bauperioden nicht etwa gleitend aus der jeweils vorhergehenden entwickelt sondern sie stehen oft im schroffen Gegensatz zueinander, wie man beispielsweise am Übergang von der romanischen zur gotischen Periode ablesen kann. Auch Malerei und Musik sind dem steten Wandel von Mode und Geschmack unterworfen.

Gewiss wird es eine kontinuierliche Musiktradition unter den Menschen gegeben haben – Musik ist immer Teil gesellschaftlichen Lebens gewesen. Doch ist von der Musik des frühen Mittelalters nur sehr wenig überliefert. Das mag seinen Grund darin haben, dass eine eindeutige Notenschrift erst noch erfunden werden musste – Guido von Arezzo hatte erst nach 1000 die Idee der Notenlinie und damit der Tonhöhenfixierung. Durchsetzen konnte sich sein System aber erst hundert Jahre später. Parallel dazu entwickelte sich eine Neumenschrift, durch deren Zeichen aber nur die Melodierichtung als Erinnerungshilfe bei der Ausführung angegeben wurde. Es handelte sich um eine liturgisch gebundene Musik für den Gebrauch in der Kirche. Aus dieser Zeit erhalten wir die ersten Zeugnisse einer Mehrstimmigkeit.
Mit der Einweihung der wichtigen Klosterkirche von St. Denis bei Paris 1137 fasste Abt Suger
schon vorhandene Bauelemente mit neu entwickelten Formen zum gotischen Stil zusammen – der neue hohe Kirchenraum sollte sich auch mit einer neuen, bis dahin noch nie gehörten Musik füllen. So bildete sich eine mehrstimmige Musik in der „Notre Dame-Schule“ in Paris aus, wurde dort kultiviert und von dort verbreitet. Die Wirkung auf die Zuhörer muss beachtlich gewesen sein. Erstmals treten mit den Komponisten Leonin und Perotin (ca. 1200) auch namentlich genannte Autoren dieser drei- ja sogar vierstimmigen Musik aus dem anonymen Dunkel der Musikgeschichte hervor.

Mit Ausnahme der sich vereinzelt herausbildenden Zentren u.a. in Paris, Chartres und Cambrai ist und bleibt die Musik des Mittelalters jedoch weithin einstimmig, sieht man ab von der vielerorts seit längerem üblichen Praxis, die eine über einem Bordunton oder über ostinaten Wechselklängen aufgebaute, improvisatorische Mehrstimmigkeit hat entstehen lassen. Der aus dem alten England überlieferte „Sommerkanon“ mag dafür ein Beispiel geben. Ansonsten fehlen uns konkrete Zeugnisse und wir sind auf Vermutungen angewiesen.
So mögen etwa die paarweise miteinander instrumental musizierenden Spielleute in den prachtvollen Illustrationen zu den Cantigas de Santa Maria (12. Jh.) nicht immer im Unisono getönt haben, sondern eine improvisatorische Mehrstimmigkeit geübt haben, von der wir aber heute nichts mehr wissen.
Kunstvolle, „echte“ mehrstimmige Musik, wie sie sich schließlich im 12. und 13. Jahrhundert entwickelt hat, bleibt vorerst ein Privileg des Klerus oder des höchsten Adels. Denn Mehrstimmigkeit, die über die Bordunpraxis hinausgeht, erfordert eine kompositionelle Konstruktion nach einer Theorie von Konsonanz und Dissonanz. Sie erfordert eine rhythmische Synchronisation der Einzelstimmen. Ihre Komposition ist ein intellektueller Vorgang, deren Reproduktion Schreibmaterial notwendig macht, Pergament, Schreibzeug, und die Fähigkeit, mit beidem umgehen zu können. Damit bleiben von vornherein weite Kreise der mittelalterlichen Gesellschaft von kunstvoller, mehrstimmiger Musik ausgeschlossen.
Ein besonderes Kapitel der Musikgeschichte ist die relativ unabhängig von den Kathedralschulen sich entwickelnde Kunst der Troubadours an den okzidentalischen Höfen, etwas später die der Minnesänger im deutschsprachigen Raum. Wann diese Kunst der fahrenden Sänger ihren Anfang genommen hat, wissen wir nicht genau. Informiert sind wir über die zumeist dem niederen Adel zugehörigen deutschsprachigen Dichter und Sänger vor allem durch die mit prachtvoll plakativen Illustrationen ausgestattete sog. Manessische Liederhandschrift (entstanden um 1300, sie enthält aber keine Melodien).
 
Immerhin ist aus dieser Zeit, vor allem aus der Notre-Dame-Epoche, ein umfangreiches musikalisches Repertoire überliefert. Textierte Musik, die ursprünglich vokal, verschiedentlich auch instrumental oder unterstützend instrumental ausgeführt worden sein könnte. Abbildungen von Musikern mit ihren Instrumenten zeugen auch heute noch von einer regen Instrumentalmusik in dieser Zeit. Als Anhang an eine liturgische Musik hat sich ein kurzes, untextiertes, seiner Struktur nach offensichtlich instrumentales Musikstück erhalten. Wir können es als ein Beispiel einer bereits in hoher Blüte stehenden mehrstimmigen Instrumentalmusik ansehen.
 
Im Verlaufe des 14. Jahrhunderts ändern sich der soziologische Rahmen der Musik und damit die musikalische Mode grundlegend. Die Musiktheoretiker der Zeit, wie Philip de Vitry (1291-1361) sprechen von einer „Ars nova“, also einer neuen Kunst in der Musik. Die alte Modalnotation bedeutete für den veränderten Musikstil eine Einengung, es wurde eine neue, rhythmisch flexiblere Notation eingeführt. Die erstarkenden Fürstenhöfe in Norditalien und Burgund legten Wert auf eine repräsentative Hofhaltung: die Kunstmusik wurde weltlich. Musik und Dichtkunst gehörten neben der Jagd und dem Turnierspiel zu den favorisierten Unterhaltungen bei Hofe. Es etablierte sich eine kunstvolle mehrstimmige Musik, in Burgund für uns heute noch sichtbar um den Dichtermusiker Guillaume de Machaut (1300-1377), in Italien um den blinden Organisten Francesco Landini (1335-1397). Die Musik beider Komponisten wurde aufgeschrieben, verbreitete sich und fand Nachahmer. (Ex. Landini)

Wenn man so will, kann man das Ende dieser höfischen Epoche an der besonderen Persönlichkeit des Südtiroler Landedelmannes Oswald von Wolkenstein (1377-1446) ablesen. Die Musik, die er gesammelt, mit eigenen Texten versehen hat, vielleicht sogar teilweise selbst komponierte, verweist auf die höfische, burgundische und italienische Tradition. Sein Eintreffen auf dem Konzil zu Konstanz (1414-17) bedeutet aber gleichzeitig die Begegnung mit einer wiederum neuen Musik (vor allem der „englischen Singer“ mit ihren ungewohnten Terzklängen). In der Begleitung der Konzilsteilnehmer, die aus allen Ländern des Abendlandes herangereist waren, um über die Auflösung des Schismas, der Kirchenspaltung zu beraten, befanden sich Musiker, Sänger und Instrumentalisten. Die Begegnung der unterschiedlichen Musikstile markiert den Beginn einer neuen Stilepoche.
In der Folge setzt sich rasant eine neue geistesgeschichtliche Entwicklung ein, in der mit einer besonderen Hinwendung zur griechisch-römischen Antike durch den Humanismus die mittelalterliche Scholastik abgelöst wurde – ein Umsturz in den bildenden Künsten, der Literatur und der Musik, die alle einen zunehmenden weltlichen Anteil und Charakter erhielten.

Und wieder ist die neue Musik an die bemerkenswerte Fertigstellung eines grandiosen Bauwerkes einer wiederum neuen Zeit geknüpft: Zur Einweihung des Domes zu Florenz 1436 schrieb Guillaume Dufay die Motette „Nuper rosaraum flores“. Ein Bauwerk, das mit der genialen Kuppelkonstruktion von Brunelleschi wie kein anderes zum Wegbereiter der Renaissance geworden ist; und dazu erklingt eine Musik, die nicht mehr die des Mittelalter ist.
Ein neues tonales Denken, ein modifiziertes Stimmungssystem, in dem die sich die Terz nun als konsonant darstellte, die Ausbildung einer Kadenz mit Dominante und Quartvorhalt (Beisp Dunstable) sollten zu einem neuen, in seinen Grundzügen bis heute noch gültigen Harmoniesystem führen. Zur schnellen Verbreitung der neuen Musik kam es nicht zuletzt durch die Einführung des in China schon lange bekannten Papiers als Schreibmaterial. Die ersten Papiermühlen wurden in Europa gebaut, unbedingte Voraussetzung für den Buchdruck, der bald nach 1460 eine ähnliche Revolution auslöste wie für uns vor kurzer Zeit die Erfindung und Einführung des Computers. Zunehmend fanden sich auch in Bürgerhäusern die handgeschriebenen mehrstimmigen Musiken, „zu Singen und zu Spielen auf allerley Instrument“, als ein unterhaltsames Gesellschaftsspiel.
Der nächste und entscheidende Schritt zur Verbreitung der Musik erfolgte dann mit der Erfindung des Notendruckes durch Ottaviano Petrucci, der 1502 in Venedig das erste Liederbuch mit beweglichen Lettern ausführte.
(Beisp)
Mehrstimmige Musik war nun beinahe zum Allgemeingut geworden, im Bürgerhaus wuchs nun auch das Interesse am Instrumentalspiel, es wurde das erste Musiklehrbuch gedruckt (Virdung 1511), dem bald weitere folgten. Die Quellenlage wird im Verlaufe des 16. Jahrhunderts dichter, zahlreiche Publikationen mit mehrstimmiger Musik füllten den Markt, wurden sogar nach Übersee in die „neuen Länder“ versandt und sorgten für eine rasche Verbreitung der Chansons, Lieder und Madrigale.

Schon seit Ende des 14. Jahrhunderts hielten sich reiche Städte und repräsentative Hofhaltungen professionelle Musiker, die Trompete, Busine, Schalmei und Pommer für die „laute Musik“, die Alta capella zu spielen hatten. Wo es eine „laute Musik“ gab, konnte auch die „leise“ Besetzung nicht fehlen, meist durch Saiten- und Flötenmusik repräsentiert. Beides wurde zunehmend professionellen Musikern übertragen. Die Hofkapellen unterhielten neben ihren Sängern auch eine Anzahl Instrumentalisten – bald hatten alle größeren – Städte ihre Stadtpfeifer, zunftmäßig organisierte Musiker, die zu allen öffentlichen, aber gegen Honorar auch privaten Gelegenheiten aufspielten.
Aus dieser Zeit ist reichlich Notenmaterial zu allen denkbaren Gelegenheiten erhalten. Im gesamten 16. Jahrhundert überwiegt die Edition in Stimmbüchern, d.h., jede Stimme des mehrstimmigen Musikstückes ist einzeln in gesonderten Büchern notiert. Bisweilen erfolgt aber auch die Ausgabe in Chorbüchern für den Gebrauch auf einem großen Notenpult, aus dem alle gemeinsam jeweils ihre Stimme absingen oder –spielen konnten. Eine Notation in Partitur kam erst nach 1600 in Gebrauch, vor allem, nachdem sich der basso continuo als Element eines neuen Stiles und einer neuen Zeit – des Barock – durchgesetzt hatte.


 
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Die Alta-Capella: Laute Musik für den großen Raum oder im Freien Motet, Notre-Dame-Schule um 1200 Guido von Aresso mit Monochord, 12. Jh.